Stranden

„Das hört sich total bescheuert an. Aber irgendwie wollte ich nur wild und frei leben.“

„Das hört sich doch nicht bescheuert an. Das ist doch okay.“

  „Ja, aber das will jeder zweite. Und dann endet es mit irgendwelchen Kompromissen. Ist doch so.“

 

Die fetten Jahre sind vorbei

Die Welt ist so übervoll wie ein bis zum Rand gefülltes Fass und jeder von uns liegt ganz unten. Jeder von uns steht außen und wirft noch mehr Müll hinein. Jeder von uns wird reingeworfen und landet hart auf den anderen. Jeder von uns liegt ganz unten und wird erdrückt.

 

 Jeder von uns träumt von draußen.

 

Ich schaue auf die Erde.

Ich schaue auf die Erde und suche nach Erde. So übervoll ist die Erde, dass ich die Arme an meinen Körper klemme, um nicht angerempelt zu werden. Ich gehe durch die Stadt wie ein Stück Anonymität, gehe durch die Menschen, eine anonyme Masse. Wie kann es sein in einer Welt voller Individuen, dass jeder anonym ist?

Ich gehe über die Straße, über den Asphalt, über die Pflastersteine, ich sehe zu Boden und suche die Erde. Ich hebe den Kopf und sehe Autoketten, die sich enger schließen, ich sehe Menschen, die wie panische Fischschwärme aus dem Netz zu fliehen versuchen.

Ich sehe Hochhäuser anstelle von Tannen, ich sehe Grau anstelle von Grün. Ich frage mich, wie man hier leben kann.

Ich sehe Anonymität.

Ich frage, wie man hier reden kann.

 

Ich sehe einen Park, den sie Natur nennen, und ich sehe ein betoniertes Wasserbett, das sie Fluss nennen. Ich sehe eine anonyme Frau, die sie Nachbarin nennen, und ich sehe eine Taube, die sie wildes Tier nennen.

Ich sehe einen Fernseher, den sie Freizeit nennen, und ich sehe eine Schule, die sie Zukunft nennen.

Ich sehe Kinder mit Erzieherinnen und Eltern mit Arbeit.

Ich sehe grelle Seiten voller Angebote und ich sehe Einkaufstüten in den Händen. Ich sehe strahlende Gesichter auf Papier und fahle Gesichter auf der Straße.

Ich sehe Kinder ohne Eltern und Eltern ohne Kinder.

 

Ich sehe Züge in tausend Richtungen und ich sehe Busse, die im Kreise fahren. Ich sehe Autobahneinfahrten, ich sehe Autobahnausfahrten, aber ich sehe keine Straße ohne Leitplanke.

Ich sehe einen toten Hasen, der die Straße queren wollte.

 

Ich sitze in der Klasse und höre von Zahlen. Ich höre von Genetik, ich höre von Satzstruktur, ich höre von Hitler und ich höre von H2o. Ich höre kein Zwitschern, ich höre keinen Wind in den Bäumen, ich höre kein Wasser auf dem Stein.

Ich höre das Schreiben von Stiften.

 

Ich sehe, wie sie eine Tablette schluckt, um die Schmerzen zu betäuben. Ich sehe, wie er eine Tablette schluckt, um sich zu beruhigen. Ich sehe, wie sie eine Tablette schluckt, um wieder glücklich zu werden.

 

 

Ich sehe, dass er vor dem Hochhaus liegt, die Arme ausgestreckt wie ein Vogel, der fliegen wollte.

 

Ich sehe, dass Glück eine Folge biochemischer Prozesse ist. Ich sehe, dass wir wissen, wie es entsteht. Ich sehe, dass wir imstande sind, es mit Tabletten zu aktivieren. Und ich sehe, dass es ohne Tabletten fern bleibt.

Ich sehe einen toten Vogel auf der Bordsteinkante.

 

Ich rieche Pommes und Burger. Ich rieche Abgase, heißes Gummi, dampfenden Teer. Ich rieche Parfüm. Ich rieche keine Menschen.

 

Ich sehe Menschen, aber ich sehe keine Menschlichkeit.

Ich sehe keine Tierlichkeit.

Ich sehe keine Pflanzlichkeit.

Ich sehe Teer.

 

Ich schaue in den Himmel.

Ich schaue in den Himmel und sehe hoch oben die freien Vögel. Ich sehe Flugzeuge, die ihre Bahnen kreuzen und weiße Straßen in den Himmel graben. Ich sehe tausend Reiseziele und keine Ankunft.

Ich sehe eine Taube, die im Dreck nach Futter sucht.

 

Ich schaue ins Wasser.

Ich schaue ins Wasser und sehe Tüten treiben. Ich sehe Ölteppiche, die das Wasser bedecken wie Teer die Erde. Ich sehe Netze wie Grenzen. Ich sehe einen Fisch an der Oberfläche treiben.

Ich sehe Schiffe, die die Wellen reiten. Ich sehe Fischerschiffe, Walfangschiffe, ich sehe Yachten und ich sehe Kreuzfahrtschiffe. Ich sehe einen Pool auf dem Schiff und Menschen mit Cocktailgläsern.

Ich sehe einen Wal auf der Flucht ins Land, der im Sand gestrandet ist.

 

Die Welt ist übervoll und leer.

 

 

Jeder liegt ganz unten und wird erdrückt.

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